Aus dem digitalen Nirgendwo ins Zentrum der Macht

Der Erfolg der deutschen Piratenpartei hat für zehntausende von Publikationen gesorgt.

Angefangen bei den globalen Leitmedien bis hin zum letzten CSU-Blog, haben Journalisten und andere, die sich dafür halten die Einzüge in deutsche Regionalparlamente kommentiert und versucht Lieschen und Hans Durchschnittsbürger die transparenten Geheimnisse der Piraten näher zu bringen.

Passiert das konzentriert und von allen Seiten gleichzeitig nennt man das ganze Hype.
Ein Krankheitssyndrom an dem schon manche politische Partei gescheitert ist, da
sie die geweckten Hoffnungen und Wünsche nicht einlösen konnte.

Umso wichtiger ist es von denen zu lernen, die den Hype hinter sich gelassen haben
und in der realen Politik angekommen sind. Sie alleine können eine Ahnung davon
haben wie es weitergeht, wenn die Presse es irgendwann mal für langweilig hält
das Piraten lieber keine Ahnung haben oder sich allgemein nicht äußern wollen.

Es ist offensichtlich, dass es bei den Piraten noch nicht so viele gibt die ein Leben nach
dem Hype kennen. Amelia Andersdotter ist eine von Ihnen. Als eine der beiden
schwedischen EU-Parlamentarier hat sie den Urhype 2009 nicht nur erlebt, sondern
war mitten drin. Amelia ist 25 Jahre alt, Nerd und Freiheitsextremist – also ein Protopirat.
<Amelias Page: http://ameliaandersdotter.eu/archived/www.ameliatillbryssel.se/deutsch.html>

Sie und Christian Engström waren das Initial für den Erfolg der deutschen Piraten.
Nicht wenige sind deshalb Pirat.

Weil das so ist freue ich mich wie ein Schneekönig Amelia wieder zusehen.

Wir hatten vor langer Zeit vereinbart einen Termin zur Europäischen Integration
in Nürnberg zu machen – nicht ahnend, dass Sie direkt aus Griechenland kommen
würde und die Troika gerade dabei sein würde den Daumen über Athen zu senken.
<Veranstaltung unter: http://www.youtube.com/watch?v=ZhRO2-cpRys&list=UU_47lgRLM00HxcGslcgSzDg&index=6&feature=plcp >

Es ist das erste Mal seit Langem, dass wir ein bisschen mehr Zeit haben werden als bei den offiziellen Parteiterminen; schließlich ist dort eine Hochkontaktrate gefragt. Also freue ich mich auf die Autofahrt vom Münchner Flughafen und Neuigkeiten.
Es verläuft alles ein ganz kleines bisschen anders als gedacht. Anders als bei unserer
ersten Begegnung vor drei Jahren in Prag wo wir viel Zeit hatten über dieses oder
jenes Thema einfach zu plauschen kommt Amelia nach dem „Hallo“ im zweiten Satz sofort zum Kern.

„Was denken die Deutschen über die Griechenlandkriese? Aber in real und nicht das was
in den Medien steht!“ Treffer – versenkt – die Frage der Fragen – sobald ich eine Antwort habe bewerbe ich mich bei Günter Jauch. Gottseidank ist sie nicht die erste die diese Frage stellt; ich habe sie auch schon paar Mal formuliert und brav Antworten gesammelt. Einer der besten kommt von Georgios – vor allem weil er garantiert weder des Antihelenismus noch des Progermanismus verdächtigt werden kann. „Ich habe mich von meinen Bekannten und Freunden in Griechenland die letzten 20 Jahre auslachen lassen ob meines deutschen Gehalts bei voller 60 Stunden Woche. Komm zurück nach Hellas und lass uns eine Saison lang Körbe am Strand vermieten – die Touris zahlen jeden Preis, die Regierung unterstützt jeden Geschäftsplan, am Ende zahlt die EU brav. Dafür kaufen wir deutsche Telekommunikation und Panzer. Alle machen mit – alles schauen weg – alle werden glücklich – Jamas“

Eben passieren wir den Buchhandel am Flughafen und ich zeige auf die prominenteste Auslage. Dort liegt Thilo S. neustes Erregungsbuch. „Have a look – it is looking harmless but it is a right wing populist clothed into a socialdemocrat suit – he is selling fine” Amelia kennt alle Arten von Sozialdemokraten auch aus dem eigenen Land – schließlich ist in Schweden die Sozialdemokratie nicht nur eine Partei sondern ein Staatssystem. Mal sehen wie man das alles mit Griechenland und Europäische Integration zusammenbringen kann.

Amelia äußert sich (aus der Sicht eines absoluten Proeuropäers der ich bin) durchaus reserviert. Nicht nur während unserer Fahrt nach Nürnberg sondern auch am Abend beim Podium wird sie ihre Bedenken äußern. Alleine der kulturelle Unterschied bringe Herausforderungen mit sich und untermauert ihre Aussage mit dem Faktor Sprache und Sprachführung. Während es bei dem vorrangegangenem Termin in Griechenland der mit Archäologie nichts zu tun hatte durchaus Normalität war auf die mythische Welt von Zeus und Co. zu verweisen, würde sie in ihrer Schwedischen Heimat für die Zitierung von Thor und Anhang nur Kopfschütteln und Unverständnis ernten. Jenseits der Sprache bestimmt aber die Kultur eben auch tägliches Zusammenleben wie z.B. die Verwaltung. Wir vergleichen die Konsistenz zwischen einer niederländischen Baugenehmigung und einer eines nicht näher zu nennenden Mittelmeeranrainers (der dieses Mal nicht Griechenland sein soll). Wir müssen beide schmunzeln weil wie beide Bekannte haben, die einschlägigen Erfahrungen gesammelt haben.

Das ist ein Punkt sage ich aber auf der anderen Seite leben ja auch Bayern und Berliner seit beinahe 150 Jahren in einem Staat zusammen; haben immer noch nicht alle kulturellen Grenzen überwunden und bis auf radikalpolitische Trachtenvereine würde niemand das Bündnis in Frage stellen. Es funkt ja irgendwie und am Ende sehen wir alle den Vorteil.

Amelia erkennt den Punkt an, hat aber natürlich einen Gegenbeweis und der heißt Schweden. Man hätte sich nirgends vereinigt – man ist ein kleiner Staat – aber nirgends sind die echten Vorteile eines Europas wirklich wahrnehmbar. Je größer Europa werde desto weniger wird eine schwedische Einstellung – das oben genannte System und die ewige Neutralitätsfrage wahrnehmbar in diesem Konstrukt. Es ist nicht meine Aufgabe jedes Argument zu entkräften weil es gegen meine Überzeugung spricht und lasse es stehen – ist wohl eine Aufgabe für die Zukunft auch den Schweden mehr zu bieten als was sie bisher geboten bekommen haben.

Einig sind wir uns über das Demokratiedefizit in der EU. Ein echtes Parlament muss her mit echten Rechten wenn es weitergehen soll; aber die Sprache hat sich verändert. Amelia wägt Ihre Worte ab. Vor allem während des Streams, beim offiziellem Besuch bei Eurodirekt und wenn Sie von dritten spricht. Vorsichtig wenn es um systematisches geht. Ja die „Regionen“ könnten mehr Berücksichtigung finden, aber wer genau ist Region; dann lieber nicht total und unumkehrbar dafür sein. Amelia hat es gelernt das in Brüssel andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Die eigene Parteizughörigkeit spielt dabei keine Rolle – im EU-Parlament werden Bündnisse von Parlamentariergruppen jenseits von Fraktionszwängen initiiert. Ein System das sich die nationalen Parlamente durchaus zum Vorbild nehmen könnten. Dann aber müsste auch das sinnlose Gebashe des politischen Gegners aufgegeben werden, auf das man in manchen Landen so stolz ist; denn Menschen die man persönlich vorführt arbeiten nicht gerne sachlich mit einem zusammen.

Wir kommen auf den Punkt: Europa braucht seine Bürger – ein Europa ohne die Bürger wird es nicht geben – egal welche Nationalität sie sich zugehörig fühlen entsteht eine europäische Öffentlichkeit, die mehr von Europa erwartet als den Euro. Eine Öffentlichkeit die sich bei den Anti-ACTA-Protesten gezeigt hat und jenseits der nationalen Grenzen arbeitet; sich ihre Meinung global bildet.

Amelia fasst das ganze so zusammen. Insbesondere die Bürger Osteuropas haben nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auf die demokratischen Institutionen der EU gesetzt weil sie eben aus einem System kommen in denen Privatsphäre, freie Meinungsäußerung und ein neutraler Staat mitnichten die Regel waren. Wenn nun die EU nach stalinistischem Vorbild Geheimverträge zur Überwachung ihrer Bürger verhandelt so gerät das System ins Wanken und Bürger begehren aus noch frischer Erinnerung auf. Kein Wunder also das die Polen und Tschechen als erstes auf den Barrikaden waren.

Kein Wunder wenn Anonymusmasken den polnischen Sejm übernehmen. Dieses Engagement ist ein Plädoyer für Europa keines Dagegen – Europa gilt als Garant fundamentaler Grundrechte. Doch während in Osteuropa die EU als Garant für Demokratie gilt – so erscheint Sie in den südlichen EU-Krisenländern gerade als Garant zur Abschaffung  sozialer Standards.

Um dieses Paradoxon zu verstehen,  muss man nochmals die Mechanismen hinterfragen. Faktisch sind immer noch Nationalstaaten und Ihre Interessen Akteure europäischer Politik und nicht die gewählten Volksvertreter. Je nach Interessenlage der großen Player innerhalb der EU werden somit verschiedene Maßstäbe und Politiken gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten praktiziert. Je nachdem ob zu erwarten ist gute oder schlechte Presse zu bekommen wird die EU instrumentalisiert. Bei Erfolgen stehen natürlich nationale Politiker im Vordergrund – bei Misserfolgen und schlechten Nachrichten ist es die EU die den nationalen Politiker zum Handeln gezwungen hat. Natürlich kann ein solches System der nationalen Interessen nur begrenzt Erfolg haben.

Der Erfolg Europas und damit eine weitere Integration, hängt maßgeblich davon ab dieses System zu verlassen und endlich eine vollkommen demokratisch legitimierte EU-Politik zu beschreiten, die für alle Bürger Europas gleich ist – unabhängig davon ob der Bürger aus einem wohlhabenden und großem Land kommt oder einem ärmlichen und kleinem.
Ja – ein Europa wird es nicht wirklich geben wenn die Deutschen & Franzosen nicht bereit sind ihre Poolposition zu relativieren und anfangen die Vorteile von Europa zu teilen, anstatt sich gegen den Wohlstandstransfer zu stellen.

Wir nähern uns einer Vorstellung wie man die Schweden, Griechen, Deutschen und all die anderen unter einen Hut bringt. Kein fertiges Konzept – keine Phrasendrescherei, sondern
einfach nur der Gedanke, dass sich die Herzen für Europa wieder entflammen müssen. Das da eine große Idee ist, die wir uns nicht von Apparatschniks und Egopolitikern  kaputt
machen lassen dürfen. Ein Europa der großen Ideen und der kulturellen Vielfalt, denn es ist die Angst vieler Europäer im kulturellem Einheitsbrei unterzugehen. Und diesen wird es nicht geben. Selbst nach 209 Jahren Zwangsvereinigung mit Bayern erkennt der Franke wo die Kulturgrenze verläuft und was ein bayerisches und was ein fränkisches Bier ist.

Was lernen wir an diesem Tag für uns als Piraten und für das Leben nach dem Hype?

Erstens: die schwedischen Piraten haben sich mittlerweile eindeutig für eine Programerweiterung positioniert. Das lange Festhalten am kernigen Mittelpunkt hätte beinahe zum vollkommenen Verschwinden der Piratenpartei Schweden geführt. Das möge uns jeden Zweifel nehmen, dass unsere Entscheidung auf die Gesellschaft zuzugehen richtig war.

Zweitens: wenn der Rauch verfliegt und alle Feiern beendet sind zählen nur Inhalt und Fachkompetenz. Ohne diesen Inhalt ist jede Kommunikation sinnlos. Daher liegt die Zukunft nicht in fröhlichen Stammtischen und Selbstbefriedigungsrhetorik sondern in harter und inhaltlicher Fachgruppenarbeit. Die Bürger Europas wählen uns wegen des Inhalts und nicht wegen dem schönen Orange, das in Schweden übrigens Lila ist.

Drittens: Die Nettikette macht das Geschäft; im EU-Parlament ebenso wie im alltäglichen Parteileben. Anstatt das jeder seiner Egozentrik frönt und abstruse Thesen twittert müssen alle ein für alle Mal übereinkommen, dass wir nicht auf eigne Rechnung arbeiten sondern uns aktiv entschlossen haben eine gemeinsame Sache nach vorne zu bringen. Erst wenn wir zuerst an die anderen denken und dann erst an unsere Bedürfnisse wird aus dem bunt zusammengewürfelten Haufen eine echte politische Kraft, die mittelfristig Erfolg haben kann. Die Diskussion als Grundlage unseres demokratischen Systems brauchen wir, aber bitte „Hart in der Sache und freundlich im Ton – emotionales oder gar persönliches hat in dieser sachlichen Diskussion nichts verloren.“

Amelia drückt es relativ klar aus: „Streitet Euch nicht; investiert Eure Zeit in Inhalte!“

Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken: Bei Dir weil Du bis hierher gelesen hast und bei Andrè (El Praktikant), Florian, Patrick, Raphael (die viele Technik), Mathias (der Fahrer), Susanne (Fotos), Michael (Guide), Christiana (Raum)  und allen Unerwähnten die den Tag möglich gemacht haben.