Im Osten viel Neues – dieses mal Warschau
Erinnert sich noch jemand wie das Jahr angefangen hat? Saukalt war es – viel zu kalt um auf die Straße zu gehen. Und dennoch schafften es mehrere Millionen Menschen europaweit ihren Unmut über das ACTA-Abkommen an die extrem frische Luft zu tragen.
Unvergessen sind die Zeichen der Tschechischen und Polnischen Parlamente: Sie haben ACTA abgelehnt. Nach beinahe einem Jahrzehnt Geheimdiplomatie und Hinterzimmerlobbyismus sind diese Abstimmungen öffentliche Zeichen vom Zusammenstoß der MS ACTA mit mehreren Eisbergen. Der Untergang in seiner damahligen Form war nur noch eine Frage des Wann und nicht mehr des Ob.
Warum aber haben die Parlamente ausgerechnet in den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als erstes reagiert? Warum haben die Volksvertreter in den westlichen Vorzeigedemokratien verschlafen? Warum waren sie eigentlich nicht die ersten die den stinkigen Fisch ACTA gerochen haben? Die Frage nach den Versäumnissen soll an anderer Stelle beantwortet werden. Um einiges spannender ist es, sich an die Antwort darauf anzunähern, warum ausgerechnet die Parlamente so junger Demokratien, Europa eine Lektion in Sachen digitaler Bürgerrechte erteilt haben.
Um der Antwort näher zu kommen fahren wir auf Einladung von Janusz Palikot nach Warschau. Palikot, seines Zeichens Vorsitzender der nach ihm benannten Palikot-Bewegung und ehemahliger Minister unter dem jetzigen Ministerpräsidenten Donald Tusk, ist für die polnische Politszene ein absolutes Novum. Es vergeht keine Woche in der Palikot vergessen würde die polnische Kirche und ihre Verstrickungen in weltliche Angelegen zu geisseln. Als erste politische Kraft stellt er sich somit gegen den, über der Republik liegenden, katholischem Schleier. Als erste und bisher einzige Kraft steht er offen zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen und zur Legalisierung von Cannabis. Der letzte Punkt wird mittlerweile übrigens von Kwasinewskis nationalpatriotischer Recht- und Gerechtigkeitspartei wohl wegen des benötigten progressiven Schamblatts adaptiert.
Für uns entscheidend für die Zusage der Einladung ist alledings, dass Janusz Palikot verantwortlich ist für das mittlerweile lägendere Foto des Polnischen Sejms, auf dem sich neben verdutzen Abgeordneten lauter Anonymousmasken wiederfinden um gegen ACTA zu protestieren. Das Bild (hier Link zu Bild und background) ging um die Welt und war das Zeichen für Millionen Europäer das sie zu Recht auf die digitalen Barrikaden gingen. Grund genug also um seiner Einladung zu folgen und sich weiter international zu vernetzten, denn eines ist uns allen bewusst: ACTA ist eine politische Leiche – leider lebt der Geist aber weiter und kommt in neuen Gewändern.
Da wir schoneinmal in Warschau sind, nutzen wir die Gelegenheit uns mit polnischen Piraten und anderen Nichtregierungsorganisationen, inbesondere der Stiftung für ein moderenes Polen zu treffen um uns ein abgerundetes Meinungsbild zu holen. Folgende Erkenntnisse haben wir nach dem abendlich-nächtlichen Informationsaustausch:
1) Es gibt in Polen eine aktive open-source-Bewegung. Sie betreibt z.B. ein Portal für gemeinfreie Werke, die von einem relevanten Anteil polnischsprachiger Netzbürger genutzt wird.
2) Alle Unterrichtsmaterialien in Polen werden in CC-Lizenz erstellt. Ein Model das bei uns auch schon längst funktionieren könnte.
3) Weil die erste Registrierung der Piratenpartei vor drei Jahren an Formalkram gescheitert ist, haben Piraten vorsichtshalber dieses Mal gleich zwei parallel gestellt, damit auf jeden Fall gewährleistet ist, dass man bei den Europawahlen 2014 mitmachen kann.
Natrülich unterhalten wir uns auch lange über die Anti-ACTA-Proteste und den offensichtlichen europäischen Kontext. Ebenso wie wir, waren die Organisatoren von dem plötzlichen Auftauchen tausender Bürger überrascht. Vor allem, da keine etablierte Gruppe die Verantwortung für die Demonstrationen übernahm. Organisiert wurde wie
überall per Facebook und anderen Social Networks. Etablierte Parteien, die sich während der Proteste politisch Vornan stellen wollten sind von den Demonstranten konsequent ausgepfiffen worden, ebenfalls Palikot womit wir beinahe schon am nächsten Morgen und dem Ziel unseres Besuches wären.
Das Setting ist köstlich: Unser Kontaktmann Maciek empfängt uns pünktlich am Haupteingang des Sejms, in schwarzem Anzug und weissem Hemd. Die Security muss erst realisieren, dass wir trotz unseres “legeren” Dressings ebenfalls rein wollen, aber was soll´s – vor dem Metalldetektor sind alle gleich. Hinter der Schleuse warten schon Paulina, Voluntärin und Dolmetscherin sowie Dawid, der Leiter des Büros für Internationale Kontakte, auf uns und geleiten uns zur Garderobe. Während alle brav ihren Mantel abliefern und dafür eine Marke ziehen fällt mir die Ausstellung im Vorraum auf. Eine Fotoausstellung zur Feier der 20ig-jährigen deutschpolnischen Militärischen zusammenarbeit. Es gibt Augenblicke im Leben in dennen sollte Mensch nicht versuchen jede Wahrnehmung rational zu reflektieren und so folgte ich dem mittlerweile ansenlichen Tross durch die breiten Gänge des Parlaments, an Horden von Journalisten und fleissigen AnzugträgerInnen vorbei zu den Fraktionsräumen der Palikotbewegung.
Hier ein nächstes Highlight – mitten im konservativen Polen ein Hanfzeichen an der Fraktionstür, die gerade aufgeht. Dahinter ein Vorzimmer voller fleissiger Menschen, die sich abwechselnd Informationsteile zuwerfen. Wir werden direkt durchgeschleusst ins Turmzimmer des Fraktionsvorsitzenden, das nach Räucherstäbchen duftend im orlientalischem Stil möbliert ist und von einem imperialen Schreibtisch aus dunklem massivem Holz dominiert wird. Ob ein Zusammenhang mit der Kennzeichnung der Tür vorliegt lässt sich nicht fesstellen. Innerhalb von wenigen Sekunden sitz nicht nur Janusz Palikot in seinem Sessel sondern ebenfalls Wanda Novicka, Sprecherin des polnischen Parlaments sowie Petr Bauc, Mitglied des Sejms und Europapolitischer Sprecher der Palikotfraktion. Wir kommen zur Sache. Nacheinander klappern wir die politisch markanten Punkte beider Parteien ab und sind uns inahltlich schnell näher gekommen. In vielen Fragen, wie Privatsphäre, Gleichstellungspolitik, Freigabe von Genussmitteln, Proeuropäische Grundeinstellung und noch mehr wissen wir innerhalb weniger Minuten das man poltisch nicht so weit entfernt steht. Nach ersten Missverständnissen ist auch geklärt, dass beide Gruppen versuchen sich nicht in ein eindimensionales Links-Rechtsschema schieben zu lassen. Natürlich und dies darf man nich unterschätzen gibt es auch Unterschiede die man betonen muss: Auf der einen Seite sitzt eine ultrabasisdemokratische Partei und auf der anderen eine gut organisierte politische Plattform die einer zentralen Figur folgt. Auf der einen Seite sprechen gut organisierte Vertreter aus verschiedenen Staaten während sie keine Vertreter im Nationalen Parlament vorweisen können. Auf der anderen Seite antworten Parlamentarier der drittstärksten Partei im Sejm, deren Erfolg aber zumindest unter dem eigenen Label in den Nachbarländern unkopierbar ist. Beide Seiten haben hier was zu geben und was zu lernen. Das Treffen hatte übrigens gar keine Ziele bezüglich eines konkreten Outputs. Im Vordergrund stand der Gedanke sich international Auszutauschen und jeweils eine Plattform zur Präsentation zu geben. Das hat vorzüglich geklappt.
Als wir nachmittags beim gemütlichen Essen sitzen, diskutieren wir noch die ein oder andere Fragestellung. Auch nach dem Fall #Mollath werde ich gefragt und kann aus erster Hand antworten. Die meißte Zeit nimmt allerding die Frage in Anspruch, was die Besonderheiten Polens innerhalb der EU sind.
Im Bezug auf ACTA und den Schein den es erweckt hat bestätigt sich eine These, die Amelia Andersdotter schon in diesem Sommer bei ihrem Besuch in Nürnberg formuliert hat. Diese lässt sich so zusammenfassen: Das allgemeine Bewusstsein gegenüber staatlicher Kontrolle und Einschränkung oder Überwachung der Privatsphäre sind aus historischem Anlass präsenter. Der Beitritt zur EU bedeutete für die Polen und andere Osteuropäische Staaten und deren Bürger die Anerkennung ihrer Reformbemühungen einerseits und die Endgültige kodifizierung demokratischer Mindestnormen auf der anderen Seite. Bürger, die sich mit diesem Vertrauen, einem insititutionellen Rahmen unterwerfen und damit auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten reagieren sehr sehr sauer, wenn ihnen der Staat mir Gesetzten die an Stasi 2.0 erinnern aufwartet. Garantiert ein Aspekt der erklärt warum gerade bei unseren östlichen Nachbarn der Protest so heftig verlief.
Was können wir für die Zukunft aus diesen Erkenntnissen lernen?
1) Seit ACTA wissen wir das es eine europäische Öffentlichkeit gibt. Jenseits der konventionellen Medienkanäle ist diese absolut grenzunabhängig und dezentral organisiert. Diese Öffentlichkeit denkt nicht mehr im nationalen Kontext sondern im europäischen Zusammenhang, wenn nicht gar absolut galaktopolitisch. Erreicht man diese Öffentlichkeit an einer Stelle des Netzwerkes so erreicht man sie global und ohne wesentliche Zeitverzögerungen. Eine Entwicklung auf die Politiker aller Anologparteien keinerlei Antwort haben. Schon alleine weil sie das Phänomen einer multilingualen Matrix nicht erkennen können. Übrigens von der strukturellen Organisationsform unabhängig gibt es Bürger die radikaldemokratische Forderungen auch mit 10% der Stimmen auf nationaler Ebene honorieren.
2) Während so gut wie ganz Europa gebannt nach Griechenland (und anderen…) schaut wird vollkommen verkannt, welche positives Potential im Osten brach liegt. Als ich am 01.05.2004 am Marktplatz von Warschau stand um den Beitritt zur Union zu feiern, da war Polen ein armes Land, das mit viel Glück und politischem Willen die Kriterien für den Beitritt erfüllt hatte. Heute fahren tatsächlich nicht nur die oben genannten Soldaten um ihre Arbeit zu verrichten sondern normale deutsche Arbeitnehmer, da sich die Märkte längst verändert haben bevor es die Poltik realisiert hat. Warschau hat eine Skyline, die Berlin mehrfach in den Schatten stellt – egal ob einem hohe Häuser gefallen oder nicht. Und an dieser Stelle spreche ich nicht nur für Polen, sondern auch für die Tschechen, Letten und andere von denen wir uns mehrere Scheiben abscheiden könnten anstatt schwarz zu sehen. Runtergebrochen auf die Realität bedeutet dies, dass wir durch gut integrierte, funktionierende Länder wie Polen Versäumnisse an anderer Stelle um einiges besser kompensieren könnten. Wenn wir denn endlich den politischen, eindeutigen Willen hierzu formulieren und auch umsetzten würden. Es warten gespannt Millionen Europäer auf Antworten.
Mein herzlichster Dank geht an das Delegationsteam, das innerhalb von wenigen Stunden
optimal ausgenutzter Zeit für die größte piratige Pressewelle ever in Polen gesorgt hat.
Hier ein link zur polnischen politischen Leitzeitung Gazeta Wyborcza (Wahlzeitung) die
titelt: “Piratenpartei meint Polen könnte die Führungsrolle im Kampf um ein freies Internet übernehmen”. Dieser Claim wurde ebenfalls von der polnischen Presseagentur PAP verbreitet! Vielen Dank, insbesondere an Amelia Andersdotter, die sich in ihrem engen Zeitplan 24 Stunden Warschau einrichten konnte. Ebenso an Johannes Ponnader, der gezeigt hat das er die Piraten staatsrelevant auf internationaler Bühne vertreten kann. Danke auch an Susanne Winter und Sebastian Schneider die als Dokuteam ganze Arbeit geleistet und die Reise für immer archiviert haben. Ich freue mich jetzt schon auf den Film bei Piratorma.
PS: und hier noch der Link zur offiziellen Pressekonferenz – für alle die noch mehr sehen wollen: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=yPJ-NdSNdhg